Kapitel 31
 
Senta- die Unberechenbare!
 
Im Jahre 1990 kam ein mürrischer , ungehobelter Mann ins Tierheim. In der rechten Hand hatte er eine Gerte, in der linken Hand einen Strick, mit dem er einen am Boden liegenden Hund hinter sich her zog. Der Strick war so zugeschnürt, dass der Hund kaum Luft bekam. Ich lief diesem Typen entgegen und brüllte ihn an, er solle sofort das Tier los lassen. Er grinzte breit, gab mir den Strick in die Hand und sagte höhnisch: "da haben Sie das Vieh, lassen Sie sich doch beißen. Nehmen Sie ihn nicht, schlage ich den Krüppel vor Ihren Augen tot." Ich war fassungslos, mir fehlten die Worte. Der Kerl drehte sich um und ging. Der Hund kauerte noch immer am Boden und starrte mich an. In den Augen sah man nicht nur Angst. Nein Hass und Aggressivität blitzen aus den Augen. Der Hund war steif, ich bemerkte deutlich, sie würde angreifen, wenn ich etwas falsch machen würde.
Nach einer Weile gelang es mir, sie in einen Zwinger zu setzen. Es begann eine schwierige Zeit mit ihr- sie erhielt den Namen Senta. Stundenlang saß ich und andere Tierfreunde vor ihrem Zwinger. Sie blieb unnahbar und der Hass in ihren Augen blieb.
Durch einen anonymen Anruf wurde mitgeteilt, dass Senta als Welpe angeschafft und in einen Schweinestall gesperrt wurde, den sie nicht mehr verlassen hat. Schläge und Mißhandlungen seien an der Tagesordnung gewesen, wurde berichtet. Als Senta eines Tages ihren Peiniger anfiel, wäre sie fast erschlagen worden. Der Anrufer habe den Hund schreien gehört und sei dazwischen gegangen. Trotz aller Bitten wollte er uns den Namen des Halters nicht nennen.
Nun kannten wir die traurige Vorgeschichte. Wir arbeiteten weiter mit dem Hund. Doch sie blieb unberechenbar und bissig. Ich will es kurz machen. Die Ethikkommission entschied mehrheitlich, dass Senta eingeschläfert wird. Die Gefahr, dass Menschen schwer verletzt werden , war zu groß.
Am Abend vor der Einschläferung stand ich vor Sentas Zwinger. Ich weiß nicht wie lange- aber lange genug, um einen Entschluss zu fassen.
Ich sprach mir selbst Mut zu, holte eine Leine und machte die Zwingertür auf. Senta wich zurück, ich kniete vor der Zwingertür und sprach mit ihr, leise, beruhigend aber mit sicherer Stimme. Mein Herz pochte, mein Mut ging dahin. Ich bemerkte, dass Senta wie gebannt auf die Leine schaute. Offentsichtlich machte diese ihr Angst. Ich legte die Leine weg und staunte, denn Senta kam langsam auf mich zu. Wollte sie flüchten, was dann? Aber nein, sie blieb bei mir stehen und schnupperte ausgiebig an mir. Ich ging mit kleinen Schritten aus dem engen Gang und schielte nach der Hündin- und traute meinen Augen nicht. Sie tapste hinter mir her. Blieb ich stehen, blieb sie stehen. Es kam mir wie ein Wunder vor, ich konnte ihr ein Halsband umlegen, machte sie an die Leine und sie hüpfte in mein Auto, als sei das das Selbstveständlichste von der Welt.
Was mit dem Hund passiert war, welche Veränderung ihes Verhaltens, das wird ihr Geheimnis bleiben.
Weder mein Mann, noch meine Tochter Nicole noch einen Menschen, den sie aus dem Tierheim kannte, wurde jemals gebissen. Im Gegenteil, sie war freundlich, aufgeschlossen und wurde immer fröhlicher. Sie hatte weder mit Artgenossen, noch mit Katzen Probleme.
Und sie war intelligent. Wir hatten das Gefühl, dass sie jedes Wort versteht. Und einmal waren wir sicher, das sie diese Fähigkeit hat.
Senta wurde und wurde nicht stubenrein! Wir hatten sie fast ein Jahr und sie beschmutzte immer noch das Haus. Eines nachts hörte ich meinen Mann brüllen: " Jetzt ist Schluss- morgen kommt der Hund wieder ins Tierheim."
Was war geschehen? Man armer Mann ging nachts im Dunkeln und barfuß auf die Toilette. Sagen wir lieber, er wollte zur Toilette, denn vorher war er mit nackten Füßen in einen dicken Haufen von Senta getreten, groß genug, dass ihm die Kacke zwischen den Zehen hervorquoll!
Alles aus, alles vergebens, armer Hund- dachte ich. In dieser Situation war es besser, den Mund zu halten.
Am Frühstückstisch hatte sich mein Mann beruhigt. Zaghaft fragte ich ihn, ob wir es noch ein paar Tage mit Senta versuchen wollten. Er stimmte zu! Und was soll ich Euch sagen- von dieser Nacht an hat Senta nie mehr ins Haus gemacht. Da glaubt Ihr doch sicher auch, dass sie die drohenden Worte meines Mannes ernst genommen hat.
Doch die Aufregung sollte uns ein Hundeleben lang begleiten. Außerhalb des Tierheimes suchte- und fand manchmal auch- jede Gelegenheit zu zu beißen. Sie hat es öfter geschafft, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, einen Menschen zu beißen. Man kann keine 365 Tage 24 Stunden am Tag einen Hund so beaufsichtigen, dass nicht ein Unglück passiert.
Hätte es damals schon eine Verordnung über das Halten gefährlicher Hunde gegeben, Senta wäre behördlich eingezogen worden. Aber daran will ich gar nicht denken.
Außer vielen Aufregungen, zerrissenen Hosen und Jacken hatten wir auch viel Freude an ihr.
Doch ihre Geschichte geht noch weiter!
Ich hatte sie als Colliemischling adoptiert. Was für ein Irrtum!
Wie jedes Jahr fuhr ich zur Welthundeausstellung nach Dortmund. In einer Halle staunte ich! Da saßen lauter Sentas! Ich ging zu einer Züchterin und fragte, was das denn für eine Rasse sein. Hochmütig schaute sie mich an und sagte fast zornig:" das sind Bordercollies"! Und ließ mich stehen!
Aha, dachte ich, wir haben einen Bordercollie! Zur damaligen Zeit völlig unbekannt- noch nie hatte ich von diesen Hunden gehört.
Ich machte mich über die Rasse schlau. Mir wurde einiges klar, wir hatten einen intelligenten, arbeitswütigen Hund! Geschaffen, Schafe zu hüten und zu treiben. Oh Gott, was hatten wir unserem Hund angetan! Spaziergänge nur an der Leine, um zu verhindern, dass sie jemanden beißt! Sie muss sich gefühlt haben wie ein hoch intelligentes Kind, was jeden Tag die gleichen Aufgaben bekommt. Und wie ein Hochleistungssportler, der zwei Stunden am Tag im Schritt gehen darf.
Was nur tun? Wir konnten dem Hund nicht gerecht werden, aber in andere Hände abgegeben- niemals! Jetzt verstand ich auch, warum sie uns bei jedem Spaziergang umkreiste- sie wollte uns zusammen halten.
Ich zermarterte mir den Kopf, wie ich ihr Bewegung verschaffen konnte, ohne Menschen zu gefährden durch ihre Angriffslust.
Dann kam mir eine Idee, die ich ausprobierte und die funktionierte! Senta durfte vor dem Auto herlaufen, das Tempo selbst bestimmen. Vom Tierheim führt ein Feldweg bis zur Autobahnbrücke nach Wieseck. Und das wurde ihre tägliche Rennstrecke! Sie war nicht zu bremsen, hüpfte im Auto umher, bellte und die Vorfreude stand ihr im Gesicht. Mein Hund flog über den Feldweg, die Füße berührten kaum den Boden! Und sie hatte noch Zeit sich um zu drehen, ob ich auch komme! Ich hatte einen Möglichkeit gefunden, meinen Hund glücklich zu machen und niemanden in Gefahr zu bringen, von Senta gebissen zu werden. Dachte ich!
Dann passierte folgendes, wofür ich mich noch heute schäme! Es war später Nachmittag im Herbst. Es war nebelig, leichter Nieselregen, weit und breit kein Mensche zu sehen. Mein Hund raus aus dem Auto und in gewohntem Tempo flog Senta dahin..Wir waren noch auf der Pappelallee, als im Scheinwerferlicht ein Jogger auftauchte. Oh nein, bitte nicht, dachte ich und war überglücklich, als Senta ihr Tempo nicht verlangsamte und auf ihrer Spur blieb.
Doch der Augenblick der Erleichterung war nur kurz. Senta verlangsamte ihr Tempo, deutlich sah ich im Scheinwerferlicht ihren Gesichtsausdruck - da war doch was! Ich Rückspiegel sah ich noch die Umrisse des Joggers, als Senta sich umdrehte und hinter dem Jogger her rannte. Vor lauter Aufregung und Stress fand ich den Rückwärtsgang nicht- und langsam musste ich auch fahren bei den Sichtverhältnissen. Ich sprang aus dem Auto, als ich den Jogger sah. Dieser lehnte an einen Baum, die Hände hoch erhoben- und war fast ausgezogen. Jogginghosen und Pullover lagen am Boden, ein Stoff hatte Senta ihm Maul wie eine Trophäe. Ich sprach den Mann an, bat ihn einzusteigen! Ich wollte ihn nach Hause fahren, ihm den Schaden ersetzen, mich entschuldigen! Ich konnte den Vorfall nicht rückgängig machen, aber ich wollte es irgendwie wieder gut machen. Doch der Mann sagte nur immer wieder: "gehen Sie fort, gehen Sie fort "!
Ich verfrachtete meinen Hund ins Auto, schrieb einen Zettel mit meinen Daten und drückte es dem Jogger in die Hand. An der Mühle drehte ich, wollte zurück zum Tierheim, um Hilfe zu holen. Als ich an dem Baum vorbei kam, wo der Jogger gestanden hatte, war er weg.
Wo ich konnte, leuchtete ich mit dem Scheinwerfer die Gegend ab. Nichts! Ich habe den Mann nie mehr gesehen, nie mehr was von ihm gehört. Bis zum heutigen Tag schäme ich mich für diese Situation.
Senta ist 14 Jahre alt geworden, als wir nach einem erneuten Zwischenfall eine Entscheidung getroffen haben.
Ich lag nach einer schweren Operation im Wohnzimmer auf der Couch. Mir ging es nicht gut, ich freute mich auf Frau Rethorns Besuch, der mich etwas ablenken würde von meinen Schmerzen.
Da hörte ich laut meinen Mann aus dem Garten rufen:" schnell ein sauberes Handtuch bingen"! Ich quälte mich von der Couch hoch und ging in den Garten. Da sah ich Frau Rethorn am Tor auf dem Boden sitzen und mit jedem Pulsschlag schoss das Blut aus ihrem Innenschenkel!
Senta kannte und mochte Frau Rethorn. Es gab für meinen Mann keinen Grund, sie weg zu sperren, als er Frau Rethorn kommen sah. Ohne jeglich Vorwarnung schoss Senta zum Tor und biss mit aller Kraft zwischen den schmiedeeisernen Stäben durch in Frau Rethorns Bein. Nicht auszudenken, wenn ein Kind vorm Tor gestanden hätte!
Nachdem Frau Rethorn versorgt und zum Arzt gefahren war, fuhr mein Mann nach Annerod zur Tierärztin und ließ Senta einschläfern.
Sie hat bei uns ein schönes Leben gehabt, jedoch wurden einige Menschen in Angst versetzt und gebissen. Ich habe mich oft gefragt, ob es richtig war, Senta mit nach Hause zu nehmen und somit den Beschluss der Einschläferung im Tierheim zu widersprechen. Eine Antwort habe ich nicht gefunden. Ich glaube aber, ich würde es wieder tun. Die geschädigten Menschen mögen mir verzeihen.
Frau Rethorn hat ihr verziehen und denkt noch immer an Senta, wenn das Wetter umschlägt. Dann sagt sie in ihrer burschikosen Art: "Verdammte Senta, was juckt mein Bein von dem Biss von damals!
 
Kapitel 31  Kapitel 31 2
 
 
 
   
© Copyright 2018. All Rights Reserved.