Kapitel 9

 

Der Tag der Neuwahlen rückte immer näher. Mein Entschluss stand fest, ich stand nicht zur Wahl als 1. Vorsitzende zur Verfügung.

Um die Situation etwas zu entschärfen und mich endlich von den Bitten und dem Bedrängen des Vorstandes zu befreien stimmte ich zu, mich zur 2. Vorsitzenden wählen zu lassen. Meine Hoffnung war, dass die Mitglieder des Vereins bestimmt niemanden wählen würden, den sie nicht oder kaum kannten. Doch diese Hoffnung zerplatze wie eine Seifenblase!

Offen blieb die Frage, wer wird denn nun der oder die Vorsitzende sein wird? Ich hatte Frau Reusch versprochen, mich zu bemühen, einen fähigen Tierfreund oder Tierfreundin zu finden, der bereit waren, die Verantwortung zu übernehmen.

Ich sprach sehr viele Menschen an- jeder schüttelte den Kopf!

Ein Notruf des Veternäramtes sorgte dafür, dass die Wahl erst einmal in den Hintergrund trat. Einem kleinen Wanderzirkus, der in Giessen sein Zelt aufgeschlagen hatte, musste das Amt einige Tiere entziehen. Diese waren sehr verwahrlost, abgemagert und denkbar schlecht untergebracht.

Die Hunde wurden im Tierheim aufgenommen. Einige Ziegen nahm ein Landwirt auf. Übrig blieben zwei Ponys und ein Esel.

In der Presse wurde ein Hilferuf gestartet. Optimistisch waren wir nicht, einen vernünftigen Platz zu finden. Doch da war er wieder- der Schutzengel der Tiere!

Aus dem Kreis Giessen meldete sich ein Herr Prätorius und seine Frau. Sie lebten im Kreis Giessen, hatten bereits zwei Ponys und erklärten sich bereit, die drei Zirkustiere afzunehmen.

Der Stein, der uns vom Herzen blumpste, den muss man Meilen weit gehört haben. Jetzt musste nur noch die Vorkontrolle befriedigend ausfallen! Und das tat sie!

Ein sehr guter Platz, große Weideflächen, ein schöner Stall- besser konnte es nicht sein.

Sogar ein Hänger stand bereit, wir mussten uns nicht um den Transport kümmern. Und so zogen die Tiere um. Da Zirkustiere gewohnt sind, immer wieder verladen zu werden, war auch dies kein Problem.

Zwischen mir und dem Ehepaar entstand ein netter Kontakt. Sie besuchten das Tierheim öfter und nahmen regen Anteil am Geschehen rund um den Tierschutz. Ich besuchte sie und den Esel gelegentlich. Ich liebe Esel- und dieser "Typ" war etwas ganz besonderes.

Wir wussten ja nicht viel von dem Tier. Aber eines bemerkten wir schnell- er konnte einige Kunststückchen. Und da er dies auf der Weide niemanden zeigen konnte, schien ihm der Applaus zu fehlen!

Er machte sich auf die Weg! Akrobatisch geübt, gab es keinen Zaun, den er nicht überwinden konnten. Entweder er übersprang ihn einfach, oder er wurschelte sich unten durch. Mit dem Strom kam er scheinbar nie in Berührung! Oder er war hart im nehmen!

Ein Esel auf Wanderschaft ? Weit kam er nie,scheinbar fehlte ihm der Müllersohn wie im Märchen!

Er hatte nur ein Ziel! Er ging zu dem Ehepaar Prätorius nach Hause! Wie er das schaffte, das blieb ein Rätsel!

Er schien sich als ein "Hausesel" zu fühlen! Er begehrte Einlass ins Haus! Das ging natürlich gar nicht!

Es entwickelte sich ein Gesellschaftspiel zwischen Mensch und Esel! Esel aus der Weide zum Haus und vom Haus auf die Weide! Und das mehrmals am Tag! Und wirklich nur am Tag, nachts blieb er auf der Weide. Eigentlich!

Eines morgens rief mich Herr Prätorius an und berichtete mir, dass es an ein Wunder grenzt, dass er noch lebt und nicht an einem Herzschlag gestorben war. Oh meine Güte- was war geschehen?

Es war eine milde Spätherbstnacht! Vollmondnacht! Das Ehepaar Prätorius hatte nachts das Schlafzimmerfenster geöffnet. Sie schliefen ruhig und friedlich!

Plötzlich wurden sie wach- durchdringende Töne gellten in der ruhigen Nacht! Sie schreckten hoch, denn der Vorhang bewegte sich! Das kann kein Einbrecher sein, der macht nicht so einen Lärm!

Mit einem Satz waren die beiden aus dem Bett, stürzten zum Fenster und schauten- in das Gesicht des Esels!

Weit hatte er schon seinen Kopf durchs Fenster gestreckt und war dabei, ein Männchen zu machen. Prätorius waren sich sicher, dass er durchs Fenster ins Schafzimmer klettern wollte. Ein Esel im Bett auf der Besucherritze! Das wäre doch mal was! Da hätte sich das Fernsehen die Klinke in die Hand gegeben!

Eine köstliche Geschichte, wie ich fand. Und Herr Prätorius hatte das so cool aufgenommen. Warum aufregen- er ist doch nur ein Esel! Von wegen dummer Esel!

Blitzartig kam mir ein Gedanke! Ein Mensch, der mit so einer außergewöhnlichen Situationen so gelassen umgeht, der muss ein "gestandener" Kerl. Wer so einen nächtlichen Überfall mit einem kurzen Moment der "Herzinfarktgefahr" abtut und dann darüber lachen kann- der war ein Mensch mit Nerven wie Drahtseile, hart im nehmen und Konflikt bereit!

Er ist der perfekte Vorsitzende! Ihm das klar zu machen und ihn zu überzeugen, das war jetzt meine Augabe!

Bin ich so diplomatisch und redegewandt?

Und dann war es gar nicht so schwer, Herr Prätorius erklärte sich bereit, das Amt zu übernehmen.

Natürlich hatten die Mitglieder das letzte Wort.

Der Vorstand war begeistert! Sie fanden ihn sehr freundlich, offen, höflich zu vor allen Dingen sehr tierlieb.

Er war Geschäftsmann, also erfahren im Umgang mit Menschen und betriebswirtschaftlich geschult.

Der Tag der Wahl konnte kommen. Natürlich waren die Mitglieder traurig, dass ihre langjährige Vorsitzende ausschied! Doch alle waren dankbar, was Frau Reusch und ihr Vorstand großartiges geleistet hatten.

Von einer kleinen Hütte zum neu gebauten Tierheim war es ein langer und steiniger Weg.

Diesen Weg musste der neue Vorstand weiter marschieren. Denn es gab noch so viel zu tun. Vor allen Dingen belastete die finanzielle Situation.

Ich fühlte mich etwas "überrumpelt" und unsicher. Hatte ich mich überschätzt? Würde ich die anderen enttäuschen?

Die Arbeit des neuen Vorstandes begann!

Wir krempelten die Ärmel hoch und stellten uns der Aufgabe.

Bis zum Tod von Frau Reusch war ich mit ihr in engem Kontakt. Sie hat mich oft beraten, mich getröstet und mir Mut gegeben. Selten habe ich einen so warmherzigen Menschen kennen gelernt.

 

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