Kapitel 41
 
Der kleine Tarzan!
 
Ein Unwetter mit Regen, Hagel und Sturm fegte über den Kreis Giessen. Es war spätes Frühjahr, die Zeit der Jungvögel und Eichhörnchen in ihren Nestern. Viele Nesthocker überlebten nicht.
Einer aufmerksamen Dame fiel ein Nest auf, was unter einem Baum lag. Sie schaute nach in dem Gedanken, dass dies ein Vogelnest war. Doch es war ein Koben, der aus dem Baum vom Wind mitgerissen wurde. Sechs winzige Eichhörnchen lagen darin, dicht aneinander gedrängt und völlig durchnässt. Vorsichtig nahm sie das Nest hoch und musste mit Entsetzen feststellen, dass die Tierchen kein Lebenszeichen mehr von sich gaben. Einfach wieder unter den Baum legen als Futter für Rabenkrähen? Das brachte sie nicht übers Herz. Sie brachte ihre traurige Fracht in die Praxis meiner Tochter. Alle waren traurig bei dem Anblick. Und man dachte auch an die Eichörnchenmama, die sicherlich ihre Kinder suchte.
Die Tierbestattung wurde verständigt, denn einfach "entsorgen", das entsprach nicht unserem Denken über Leben und Tod von Tieren.
Und plötzlich hörten wir zarte Tönchen! Ein Wunder, anders kann man es nicht nennen. Ein Eichhörnchen bewegte sich! Nicht zu fassen, tatsächlich hatte eines das Unglück überlebt.
Nicole rubbelte den Winzling trocken und regte den Kreislauf an. Ein Wärmebettchen wurde vorbereitetet.
Es bekam Medikamente gespritzt und wurde von Minute zu Minute lebhafter.
In Windeseile wurden alle Zutaten besorgt, die der Katzenmilch beigefügt wurden.
Würde der Winzling den Schnuller annehmen und aus der Flasche trinken? Wir hielten alle den Atem an! Nicole legte das Baby in ein angewärmtes Gästehandtuch, spritzte einen Tropfen Katzenmilch in das Mäulchen und den Schnuller hinterher! Alle Sorge umsonst, er saugte sofort und die klitzekleinen Tätzchen fingen an zu "treteln", wie an Mutters Milchbar!
Der Anfang war gemacht- die Aufzucht versprach, ein Erfolg zu werden.
Beim Popo säubern wurde auch das Geschlecht fest gestellt. Es war ein Bub und bekam den Namen Tarzan!
Nicole und mein Enkelkind Paula kümmerten sich um Tarzan, der sich schnell an den Tagesrhythmus und die Fütterungszeiten gewöhnte. Wie ein Menschenbaby auch, verlangte er Ordnung und Pünklichkeit von seinen Ersatzeltern.
Und er war sehr wählerisch- er nahm die Flasche nur von Paula und Nicole! Wie gerne hätte ich ihn auch gefüttert- keine Chance!
Es begann eine aufregende Zeit, immer wieder einmal ein auf und ab in seiner Entwicklung! Doch er gedieht, wurde größer, agiler und sein Haarklein wuchs, der buschige Eichhörnchenschwanz bildete sich!
Er war nicht mehr zufrieden mit seinem Babykäfig. Lautstark protestierte er, nagte an den Stäben und suchte einen Ausgang!
In einem Raum in der Praxis durfte er sich frei bewegen! Aber er bewegte sich nicht nur, er nagte alles an und machte vor nichts halt. Wie bei einem Kleinkind musste "höllisch" aufgepasst werdn, dass keine gefährlichen Gegenstände herum lagen. Oder aber persönliches "Eigentum", denn Tarzan fand alles interessant und nagte heftig und "besitzergreifend"!
Besonders Brillen und Taschen hattes ihm angetan. Und als so einiges "zerkleinert" war, zog Tarzan um in einen großen Käfig, ausgestattet mit vielen Klettermöglichkeiten. Das fand er super und trainierte eifrig seine Muskeln.
Als die Zeit gekommen war, ihn an feste Eichhörnchenahrung zu gewöhnen, sammelten wir alles, was diese Tiere mögen. Wir entwickelten eine richtige Sammelleidenschaft und boten ihm Obst, Nüsse, Tannenzapfen und Kräuter an. Nichts interessierte ihn, er schien es gar nicht als Nahrung zu erkennen.
Was tun? Die Flasche allein war nicht mehr ausreichend! Wir beratschlagten, wie wir Tarzen zum Fressen animieren könnten.
Paula hatte die Idee, das wir ihm das zeigen müssen. Auch Eichhörnchenmütter zeigen ihren Kindern, was fressbar und was giftig ist.
Wir schauten uns an? Wer knabbert denn zuerst am Tannenzapfen oder läßt sich den bitteren Löwenzahn- aber bitte mit Blüte- schmecken? Ausgenommen Rosinen und Nüsse - die schmeckten auch uns! Mit gegangen- mit gefangen- drei Generationen hielten sich die "Leckereien" an den Mund und mit " oh wie fein, hmmm wie gut, ist das aber lecker" spielten wir dem Eichhörnchen eine hungrige Familie vor! Er schaute sich das eine Weile an, kletterte auf die Schulter, hielt sich an den Haaren fest, machte einen langen Hals und nahm uns die "Köstlichkeiten" aus der Hand!
Das "Familienessen" war gelungen! Nur wenige Tage dauerte diese Prozedur , dann fraß der kleine Mann alles, was ihm schmeckte. Er liebte besonders, was rot war. Erdbeeren, Johannesbeeren, Himbeeren gehörten zu seinem Leibgericht. Warum nicht eine Tomate? Sofort fiel mir der Affe Olga ein, mit ihr hatte ich es mir durch eine Tomategabe verdorben!
Wir schnitten eine reife Tomate in kleine Stücke und reichten sie Tarzan! Er schien an der roten Frucht gefallen zu finden! Er biss in ein Stückchen, hörte auf zu kauen- sein Mäulchen stand offen. Er drehte das Tomatenstück hin und her und warf es durch die Gitter aus dem Käfig. Fein säuberlich entfernte er die Tomate und schmiss sie auf den Boden außerhalb des Käfigs! Und nicht wie Elsa mir ins Gesicht!!
Tarzan war ein lustiger Bursche und brachte uns oft zum lachen. Er durfte unter Aufsicht fiel aus seinem Käfig. Menschen betrachtete er offensichtlich als Baum! Er sprang uns an, rannte immer um uns herum, bis er auf der Schulter oder auf dem Kopf saß! Das wiederholte sich viele dutzendmal, er wurde nicht müde, uns zu umkreisen! Blitzschnell und zielsicher nach oben, wie wir von Eichhörnchen an Bäumen beobachten können . Dieses Verhalten ist angeboren und eine Lebensgarantie in freier Natur.
Ich erinnere mich noch an Nicoles Geburtstag. An einer großen Geburtstagstafel mit vielen Gästen wurde im Garten gefeiert. Natürlich war Tarzan mit von der Partie! Er rannte an den Gästen hoch, durchforstete den Tisch, probierte die Kuchen und bespaßte die Leute.
Man konnte ihm nie böse sein, er war ein quirliger Clown!
Dann kam Hugo an den Kaffeetisch! Hugo hatte einen großem Strohhut mit Krempe auf. Tarzan betrachtete Hugo aufmerksam! Wie ein Blitz kletterte er an Hugo hoch und saß in der Krempe des Hutes. Er knabberte am Stroh, fand das aber langweilig. Dann spazierte er im Kreis in der Hutkrempe! Das schien ihm zu gefallen! Er wurde immer schneller, flitze rundherum, drehte sich, wechselte die Richtung und war richtig in Ekstase! Hugo stand wie ein Baum, bewegte sich nicht und wir alle hatten unseren Spaß. Der wurde je beendet, denn der Hut stürzte ab und mit ihm Tarzan! Wir haben uns so erschrocken, aber dem kleinen Wildfang war nichsts passiert.
Tarzen wuchs und gedieht und war inzwischen zu einem wunderschönen Eichhörnchen mit buschigem Schwanz heran gewachsen. Die Zeit des Abschieds kam! Er war ein Wildtier und musste zurük in die Natur.
Er sollte sein Leben dort genießen, wo er hingehörte und auf keinen Fall in Menschenhand.
Sein Käfig wurde in unseren Garten gestellt. Er sollte sich noch einige Tage an die Geräusche und die Umgebung gewöhnen. In unserem naturbelassenen Garten mit hohen Bäumen, vielen Hecken und einem Teich sollte er heimisch werden.
Die ganze Familie war versammelt, als die Tür des Käfigs geöffnet wurde. Tarzan kannte das, kam heraus und sprang auf die Schulter von Nicole. Nur einen kurzen Moment stutzte er, dann spang er auf den Ast der Tanne. Plötzlich war er außer Rand und Band! Er sauste die ausladenden Äste entlang und immer höher. Er kraxelte bis an die vorderste Spitze der Äste, die gefährlich wippten.
Was macht er denn nur? Er wird fallen, so unerfahren wie er ist. Der Gedanke war noch nicht zu Ende, da purzelte er vom Baum aus ca. 15 Meter Höhe. Zum Glück kein freier Fall, er fiel von Ast zu Ast nach unten. Doch nicht in unseren Garten, sondern zum Nachbar und landete dort im Blumenkasten.
Paula war außer sich, fing an zu weinen: mein Tarzan ist verletzt! Sie kletterte über den Zaun zum Nachbarn, schnappte sich Tarzan und wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
Eine Eichhörnchenmutter hätte ihrem Nachwuchs vieles beigebracht, was wir nicht konnten. Er musste nun allein lernen, wie er sein Leben in Freiheit meistert.
Wir mussten ihn loslassen und hofften, dass ihm nichts passiert. Er kam noch eine Weile zum geöffneten Käfig zurück, indem wir ihn fütterten. Er kam auch noch zu uns, rannte an uns hoch und saß auf der Schulter.
Wir hatten im Garten zwei Kobel für ihn errichtet. Den einen im Tannenbaum hatte er sofort entdeckt. Den zweiten im Apfelbaum zeigten wir ihm. Diesen nahm er an und hielt sich viel dort auf.
Im Käfig war kein Futter mehr, er musste ein Selbstversorger werden.
Wenn er im Apfelbaum war, gaben wir ihm Nüsse als Leckerchen. Einige Zeit nahm er sie noch aus der Hand. Aber berühren konnten wir ihn nicht mehr. Er brauchte uns nicht mehr, er hatte jetzt genug Bäume zum klettern.
Eines Tages nahm er keine Leckerchen mehr aus der Hand. Nun war er "abgenabelt" und die Distanz zu uns wurde immer größer.
Schnell hatte er das Vogelhaus entdeckt, wo wir vom Küchenfenster aus beobachten konnten , wie er sich die Leckerchen holte.
Über viele Jahre war in er in unserem Garten. Lange Zeit blieb er in einiger Entfernung sitzen, wenn wir ihn mit Namen riefen. Er kannte uns , aber er war ein wildes Eichhörnchen geworden. So wie wir es ihm gewünscht hatten.
Als wir ihn eines Tages mit einem anderen Eichhörnchen sahen, waren wir überglücklich. Er hatte eine Partnerin gefunden.
Seit Tarzan bei uns lebte, haben wir Eichhörnchen im Garten. Ob es sein Nachwuchs ist? Fast glauben wir es, denn sie sitzen auch im Vogelhäuschen und holen sich Himbeeren, die Lieblingsfrüchte von Tarzan.
 
 
 
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